Dutzende bulgarische Familien aus Duisburg haben Briefe von deutschen Stadtbehörden erhalten, mit der Aufforderung, ihre Wohnungen bis Mitte September 2024 zu verlassen. Das berichtet die Organisation „Stolipinovo* in Europa“.
Dort heißt es auch, dass es sich bei den Betroffenen ausschließlich um Mieter aus den Straßen Gertrudenstraße, Diesterwegstraße, Pestalozzistraße, Wilfriedstraße, Halskestraße und Wiesenstraße handele, die regulär Mieter der Firma Ivere Property Management seien. Es stellt sich heraus, dass die Firma, der die insgesamt rund 50 Immobilien gehören, seit Monaten keine Strom- und Wasserrechnungen an die Stadtwerke bezahlt hat. Sie beabsichtigt nun, die Trinkwasserversorgung zu kappen, was die Wohnungen laut Stadtverwaltung unbewohnbar mache und zu einer geplanten Massenräumung führe.
„Ermittlungen zufolge wurde dieses betrügerische System, bei dem die Eigentümergesellschaft von den Mietern Beträge für Strom und Wasser einzieht, diese aber nicht an die jeweiligen Unternehmen weiterleitet, auch in anderen Städten im Ruhrgebiet und in Thüringen umgesetzt. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sich die lokalen Behörden dort voll und ganz auf die Seite der Betroffenen gestellt haben, anstatt Zwangsräumungen als Maßnahme zur „Lösung“ des Problems einzusetzen. Zwangsräumungspolitik ist in Duisburg nichts Neues. In unserer Arbeit als Hilfsverein für Migranten aus Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern arbeiten wir täglich mit Menschen, die gewaltsam aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Nachdem die Beschränkungen für bulgarische und rumänische Arbeiter im Jahr 2014 fielen, führte die Stadt Duisburg eine Politik der Zwangsräumung ein, um die Zahl der für unbewohnbar erklärten Wohnungen zu reduzieren. Seit Anfang 2014 wurden 96 Wohnungen kontrolliert und 79 davon sofort geschlossen. Dadurch sind Tausende Bewohner, hauptsächlich Bulgaren und Rumänen, obdachlos. In unserer Praxis stoßen wir auf extrem schwere Fälle, in denen minderjährige Kinder, behandlungsbedürftige ältere Menschen an der Hämodialyse ohne Vorankündigung und ohne Bereitstellung von Ersatzunterkünften gewaltsam vertrieben werden. Die bevorstehenden Massenräumungen werden über 900 Bewohner des Viertels betreffen, die meisten von ihnen sind bulgarische Staatsbürger, die in Deutschland ihren Lebensunterhalt als Bau-, Versorgungs- und Industriereinigungsarbeiter verdienen“, schreibt die Organisation.
Bei dem Protest gegen die Zwangsräumungen am 5. September 2024 versammelten sich über 400 Bewohner des Viertels, darunter viele betroffene bulgarische Bürger, die die Aufhebung der repressiven kommunalen Maßnahmen forderten.
* Note: Stolipinovo ist ein Stadtteil im östlichen Teil der Stadt Plovdiv, am südlichen Ufer des Flusses Maritsa. Es ist das größte städtische Ghetto in Bulgarien mit einer Bevölkerung von fast 40,000. Die überwiegende Mehrheit der Einwohner sind muslimische Zigeuner, die traditionell Millet genannt werden und sich selbst als Türken bezeichnen. Eine weitere große Gruppe, die schätzungsweise 15-20 % der Einwohner ausmacht, hauptsächlich im nordöstlichen Rand des Bezirks, sind christliche Zigeuner, die heutzutage hauptsächlich evangelisiert sind, traditionell Burgudji genannt werden und sich selbst als Roma bezeichnen.
Stolipinovo entstand 1889, als der Stadtrat von Plovdiv anlässlich einer Pockenepidemie beschloss, die in der Stadt verstreuten Zigeuner, damals etwa 350 Menschen, in ein neu geschaffenes „Zigeunerdorf“ 2 Kilometer östlich von Plovdiv umzusiedeln.[3] Die ersten Bewohner waren Familien aus dem Stadtteil Bey-Mejid in Plovdiv. Ursprünglich hieß es „Neues Dorf“, später wurde es nach General Stolypin benannt, dem Stellvertreter von Fürst Dondukov-Korsakov, der ebenfalls am Russisch-Türkischen Krieg von 1877–78 teilnahm, nach dem die Befreiung Bulgariens Wirklichkeit wurde.
In dem Viertel wird Heroin gehandelt und es gilt als größtes Umschlagslager in Südbulgarien. Kriminalität und Frauenhandel sind ein weiteres Problem, ebenso wie Geldverleiher, die armen Menschen Geld leihen und dann das Dreifache des geliehenen Betrags verlangen. Nach Angaben der 6. Polizeistation in Plovdiv ist das Viertel Stolipinovo das kriminellste aller Stadtviertel von Plovdiv.
Laut dem Bericht über die Umsetzung des Gemeinsamen Memorandums zur sozialen Eingliederung der Republik Bulgarien „erreicht der Anteil der illegalen Bauten in großen städtischen Ghettos wie dem Bezirk Stolipinovo in Plovdiv 80 %.“ Anderen Quellen zufolge beträgt dieser Anteil für Stolipinovo 98 %.
Foto: Schräge Luftbildkarte des Bezirks Stolipinovo in Plovdiv, BG / NASA – NASA World Wind. Erstellt: 05:46, 21. August 2010 (UTC).