Frankfurt am Main – In einem seltenen Interview, geführt von Caixin Global Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), gab in ihrer Rede ausführliche Einblicke in ihre Ansichten zur sich entwickelnden wirtschaftlichen Rolle Chinas, den Gefahren der globalen Handelsfragmentierung und der Zukunft der Beziehungen zwischen der EU und China. In ihrer Rede aus Frankfurt blickte Lagarde auf ihr langjähriges Engagement mit China zurück und betonte die Bedeutung der fortgesetzten Zusammenarbeit in einer zunehmend unsicheren Welt.
Chinas „Brücke in die Zukunft“ noch im Bau
Lagarde besuchte China erstmals 2018 anlässlich der ersten China International Import Expo in Shanghai und lobte dort die „drei Brücken“ des Landes – zur Welt, zum Wohlstand und in die Zukunft. Auf die Frage, ob diese Vision noch immer gelte, bekräftigte Lagarde, dass China weiterhin energisch in die Zukunft baue.
„Nach allem, was ich bisher gesehen habe, ist diese Brücke in die Zukunft eindeutig ein Projekt, an dem China hart arbeitet“, sagte sie. Sie hob Chinas strategische Investitionen in robotische künstliche Intelligenz, seine fleißigen Arbeitskräfte und seinen Fokus auf zukunftsorientierte Branchen als Schlüsselfaktoren für den raschen wirtschaftlichen Wandel hervor.
Lagarde ist seit 2018 nicht mehr nach China zurückgekehrt, doch ihre Beobachtungen lassen darauf schließen, dass sie das Tempo und den Ehrgeiz der chinesischen Bemühungen zur wirtschaftlichen Modernisierung bewundert.
Globale Fragmentierung birgt ernste Risiken
Angesichts der zunehmenden Belastung globaler Lieferketten äußerte Lagarde Bedenken hinsichtlich der weitreichenden Auswirkungen auf die Finanz- und Preisstabilität. Sie betonte den laufenden Dialog der EZB mit der chinesischen Zentralbank (PBOC) und stellte fest, dass beide Institutionen sich gemeinsam für regulatorische Rahmenbedingungen zur Wahrung der Finanzstabilität einsetzen.
„Unsere Hauptverantwortung bei der EZB ist die Preisstabilität, und wir sind in Reichweite unseres mittelfristigen Inflationsziels von zwei Prozent“, sagte Lagarde. „Aber wir können keine Preisstabilität ohne Finanzstabilität haben.“
Sie betonte, dass die Zentralbanken zusammenarbeiten müssten, um sicherzustellen, dass die Märkte angesichts geopolitischer Spannungen und veränderter Handelsdynamiken widerstandsfähig blieben.
Beziehungen zwischen der EU und China: Eine 50-jährige Partnerschaft am Scheideweg
In diesem Jahr jährt sich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der Europäischen Union zum 50. Mal. Lagarde blickte auf das vergangene halbe Jahrhundert zurück und würdigte die gegenseitigen Vorteile des zunehmenden Handels und der Investitionen, räumte aber auch die zunehmende Komplexität der Beziehungen ein.
„Ich hoffe sehr, dass China und die Europäische Union im Interesse der Finanz- und Preisstabilität weiterhin zusammenarbeiten, offen miteinander umgehen und sich an die Regeln halten, denen sie beide zugestimmt haben“, sagte sie.
Sie verwies insbesondere auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) als gemeinsame Grundlage für fairen und vorhersehbaren Handel.
Mit Blick auf die Zukunft äußerte sich Lagarde optimistisch, dass die pragmatische Zusammenarbeit auch angesichts der Forderungen Europas nach einer Risikominderung durch China bestehen bleiben könne. Sie räumte zwar die Legitimität einer Diversifizierung der Lieferketten ein, insbesondere nach den pandemiebedingten Störungen, betonte aber, dass solche Maßnahmen die breiteren Wirtschaftsbeziehungen nicht beeinträchtigen dürften.
US-Handelspolitik: Quelle der Unsicherheit
Lagarde scheute sich nicht, die jüngsten Maßnahmen der US-Regierung zu kommentieren, zu denen unter anderem die Erhöhung von Zöllen und die Einführung neuer Handelsbarrieren gehören. Zwar verzichtete sie auf direkte Kritik an der US-Politik, wies aber auf die schädlichen Auswirkungen der Unsicherheit auf das globale Wachstum und die Investitionen hin.
„Die durch Ankündigungen oder die Androhung von Entscheidungen verursachte Unsicherheit dämpft die Investitionen“, sagte sie. „Das führt dazu, dass alle Institutionen ihre Wachstumsprognosen für die Weltwirtschaft reduzieren.“
Sie begrüßte die jüngsten Berichte über Fortschritte bei den Gesprächen zwischen den USA und China und äußerte die Hoffnung, dass jede Einigung die Unsicherheit verringern und zu einem stabileren globalen Handelssystem führen würde.
Interdependenz bleibt der Schlüssel
Trotz zunehmenden Protektionismus und Forderungen nach Eigenständigkeit betonte Lagarde die engen Verflechtungen der globalen Volkswirtschaften. Sie wies darauf hin, dass Lieferketten nationale Grenzen überschreiten und Störungen in einer Region sich weltweit auswirken.
„Wenn die Situation nicht zufriedenstellend gelöst und die Unsicherheit nicht beseitigt wird, werden die Unternehmen ihre Lieferketten überdenken“, warnte sie. „Das wird zu noch mehr Instabilität und einer Phase der Unsicherheit führen, in der das Wachstum wahrscheinlich beeinträchtigt wird und potenzieller Inflationsdruck entsteht.“
Liberalismus und Globalisierung: Unvollkommen, aber rettenswert
Auf die Frage, ob die aktuelle Welle von Handelskriegen ein Versagen liberaler Wirtschaftsprinzipien darstelle, vertrat Lagarde eine ausgewogene Ansicht.
„Wir müssen die Vorteile und die Nachteile anerkennen“, sagte sie. „Die Vorteile sind unglaublich, wenn man bedenkt, wie viel zusätzliche Aktivität floriert hat, wie stark das Wachstum zugenommen hat und wie viele Menschen aus der Armut befreit wurden – insbesondere in China.“
Gleichzeitig erkannte sie, dass einige Gemeinschaften durch die Globalisierung benachteiligt wurden, und forderte eine ehrliche Reflexion darüber, wie diese Ungleichgewichte angegangen werden könnten.
Digitales und grünes Finanzwesen: Bereiche für Zusammenarbeit
In Bezug auf Innovationen hob Lagarde die Arbeit der EZB am digitalen Euro hervor und zeigte sich zuversichtlich, dass dieser nach Zustimmung der Gesetzgeber bald einsatzbereit sein werde. Sie bezeichnete den digitalen Euro als einen öffentlichen Dienst, der darauf abzielt, den sich ändernden Verbraucherpräferenzen gerecht zu werden und gleichzeitig die Währungssouveränität zu wahren.
Zum Thema „Grüne Finanzierung“ merkte sie an, dass zwar Geschäftsbanken und Institutionen wie die Europäische Investitionsbank die Hauptrolle spielen, das Rahmenwerk der EU für grüne Anleihen jedoch auch als Modell für andere dienen könne – darunter China.
Ein letztes Wort der Ermutigung für Frauen
Abschließend sagte Lagarde, die von der britischen Zeitung „The Sun“ als eine der mächtigsten Frauen der Welt bezeichnet wurde: Forbes mehrere Jahre lang – war eine Botschaft an Frauen, die Führungspositionen anstreben.
„Frauen haben das Potenzial, in jedem Bereich erfolgreich zu sein“, sagte sie. „Sie sollten stets auf dieses Selbstvertrauen und diese Energie zurückgreifen … und sich niemals einschüchtern lassen oder davon abhalten lassen, das zu erreichen, was sie können.“