In einer Welt, in der Ideologien und Sekten oft Kontroversen und Verwirrung stiften, ist das Verständnis der Feinheiten dieser Phänomene von größter Bedeutung. Die European Times hatte die seltene Gelegenheit, sich mit Peter Schulte zusammenzusetzen, einem angesehenen Sozialwissenschaftler und ehemaligen Weltanschauungsbeauftragten, der über ein Jahrzehnt lang in die Tiefen dieser Themen eingedrungen ist. In diesem exklusiven Interview teilt Schulte seine tiefgreifenden Erfahrungen, Überlegungen und Beobachtungen, die Licht in die oft missverstandene Welt der "Sekten" und "Kulte" bringen.
Einleitung
In seiner Laufbahn von 1998 bis 2010 war Schulte als Vertreter von Ideologien und Sekten mit verschiedenen Perspektiven und spannenden Lebensgeschichten konfrontiert. Entgegen den konventionellen Erwartungen stellte er fest, dass die wahre Natur dieser Dinge viel komplexer und mit der Gesellschaft verflochtener ist als bisher angenommen. In diesem aufrichtigen Gespräch erzählt Schulte, wie seine Begegnungen mit Hilfesuchenden oft zu überraschenden Enthüllungen führten, die über die oberflächliche Darstellung sogenannter „Sekten“ hinausgehen.
Im Verlauf des Gesprächs geht Schulte auch auf seine Erfahrungen mit Scientology ein, einem Thema, das die Öffentlichkeit nach wie vor in Atem hält. Durch akribische Recherchen und Analysen deckt er die soziologischen Faktoren auf, die zur Stigmatisierung dieser religiösen Bewegung geführt haben. Dabei stellt er die vorherrschenden Wahrnehmungen in Frage und wirft Fragen über gesellschaftliche Werte und Moral auf, die zum Nachdenken anregen. Sein Buch behandelt Fragen wie „Auf welcher plausiblen Grundlage wurde Scientology zu einer sozialen Bedrohung erklärt? Was waren die Ursachen für diese Maßnahmen? Welche Institutionen, Personen oder anderen Akteure waren maßgeblich daran beteiligt? Welche Mittel haben sie eingesetzt, um Scientology als gefährlich erscheinen zu lassen“.
In dieser augenöffnenden Diskussion bietet Schulte eine neue Perspektive auf das „Sektenproblem“ und plädiert für einen nuancierteren und objektiveren Ansatz zum Verständnis neuer Religiosität und Spiritualität. Er ist der Ansicht, dass nicht nur die Kirchen, sondern auch der Staat eine Rolle bei der Förderung von Transparenz und informierten Meinungen zu religiösen Fragen spielen sollte.
Begleiten Sie uns auf eine Reise des Wissens und der Erleuchtung mit Peter Schulte, der in diesem exklusiven Interview mit The European Times die verborgene Komplexität hinter Ideologien und Sekten erforscht.
The European Times: Wie wurden Sie zu einem „Weltanschauungsbeauftragten?“
Peter Schulte: Dies war eigentlich ganz trivial. Ich hatte 1998 als Sozialwissenschaftler promoviert, arbeitete eine Zeit lang in der Forschung und suchte einfach eine neue Herausforderung. Durch Zufall stiess ich auf eine Zeitungsanzeige: Mitarbeiter zwecks Aufbaus und Leitung einer Informationsstelle zu religiösen und weltanschaulichen Fragen gesucht. Dienstgeber war das Land Tirol. Ich bewarb mich und wurde angenommen ohne zu wissen, was da eigentlich auf mich zukommt.
Wie lange waren Sie dort tätig?
PS: Von 1998 bis 2010. Die Stelle war im gesellschaftspolitischen Bereich des Amtes der Tiroler Landesregierung angesiedelt. Ich hatte zwei Mitarbeiterinnen, ein grosses Büro und war zuständig für den Bereich Beratung und Information in „Sektenfragen“.
Welche Erfahrungen haben Sie in der Zeit gemacht?
PS: Ich fand die Frage interessant, welche Menschen mit welchen Anliegen eine Einrichtung wie diese kontaktieren werden. Die ersten Informationen, die ich erhielt, waren Informationsunterlagen von diversen Sektenberatungsstellen aus Deutschland und Österreich; kirchliche, staatliche und auch von privaten Elterninitiativen. Die Signale waren eindeutig: Die Gefahr durch sogenannte Sekten ist sehr groß und ich könnte auch jemand sein, der den Kampf gegen das Böse in der Welt aufnimmt. Die Waffen, die dazu notwendig waren, nämlich Informationsbroschüren aller Art, wurden gleich mitgeliefert.
Die Menschen, die direkt zu mir in die Beratung kamen, interessierten sich allerdings weniger für Literatur. Ihr ging es vielmehr um konkrete Alltagsprobleme, die offenbar in Zusammenhang mit sogenannten Sekten standen. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich aber oft, dass ihre Probleme komplexer und weitreichender waren und das ursächliche Problem – nämlich die sogenannte Sekte – nur ein Teil des gesamten Interaktionssystems war.
Es ging meistens um individuelle Lebensgeschichten, wo versucht wurde, einen Kontext zur „Sekte“ zu konstruieren. Einige Hilfesuchende waren in derart schlechter Verfassung, dass sie nicht mehr beratungsfähig waren.
Sie glaubten an Verschwörungstheorien und fremden Mächten, die sie in ihren Handlungen einschränken und manipulieren würden. Solche Beobachtungen werden in der Beraterszene völlig ignoriert, obwohl sie aus meiner Sicht eine wichtige Diskussionsgrundlage zum Thema des Umgangs mit sogenannten Sekten bilden.
Was können Sie uns über ihre Erfahrungen mit Scientology berichten?
PS: Scientology dient vielen Menschen als Projektionsfläche für das Böse schlechthin. Dabei ist es völlig unerheblich, ob die Vorwürfe wahr oder falsch sind, Hauptsache sie dienen der Aufrechterhaltung von Mythen über sogenannte Sekten. Die Beraterszene gibt sich sehr viel Mühe, dieses Bild zu transportieren und zu erhalten. Es machte mich nachdenklich zu lesen, dass bei vielen Beratungsstellen Scientology ganz oben bei den Anfragen stand; ich konnte diese Beobachtung nicht machen.
Während meiner aktiven Zeit erwartete ich Mitglieder von Scientology, die Hilfe, Begleitung und Beratung bei ihrem Ausstieg suchten. Doch niemand kam bei mir vorbei, stattdessen kamen ausstiegswillige Menschen aus anerkannten Kirchen zu mir, meist höhere Funktionäre, die mit der Kirchenautorität nicht zurechtkamen. Und obwohl sie sich sehr für das Gemeinwohl engagierten, waren sie voller Selbstzweifel und Schuldgefühle.
Bis heute fehlt ein offener Diskurs über Scientology, speziell auch die Antwort auf die generelle Frage nach der Bedeutung von neuer Religiosität und Spiritualität in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Ein weiteres Problem sehe ich in der Aufgabe der klassischen Medien, gesicherte Informationen und Fakten zu veröffentlichen. Durch das Aufkommen von social Media und neuen Informationskanälen sind diese aber häufig gezwungen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, damit ihre Leserschaft nicht abspringt.
Was hat Sie bewogen, den Job nach 12 Jahren wieder aufzugeben?
PS: Ich merkte, ich komme nicht weiter. Die Landesregierung hatte Erwartungen, die ich nicht erfüllen wollte oder konnte. Solange du die „Sektengefahr“ verbreitest und somit das Schreckgespenst beim Namen nennst, bist du Teil einer Community, die keine Selbstzweifel kennt. Alle haben das Gleiche zu denken und wer das nicht tut, dem droht der Ausschluss und ewige Verbannung. Es ist für einen großen Teil der Beraterszene schon bezeichnend, dass sie gegenteilige Meinungen und Erfahrungen größtenteils ignoriert, obwohl sie doch gerade auf dieses Problem in „Sekten» verweist“.
Sie haben einige Zeit danach ein Buch geschrieben.
PS: Ja, ich wollte meine Beobachtungen und Erfahrungen einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, sozusagen einen neuen Impuls in die Diskussion einbringen. Heraus kam eine populärwissenschaftliche Analyse, welche das Thema auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet.
Ihr neues Buch widmet sich ganz dem Thema Scientology. Wieso?
PS: Ich wollte wissen, wie es zu dieser Kontroverse kam, wieso Scientology vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet wird und welche soziologischen Faktoren das gesellschaftliche Bild über Scientology beeinflussen. Dafür habe ich jahrelang intensiv recherchiert, Unterlagen durchgearbeitet und Interviews geführt. Allein die Akteneinsicht in Unterlagen der deutschen Bundesregierung zeigt, wie dünn die Datenlage eigentlich ist und das Scientology eigentlich ohne jegliche Grundlage seit 1997 vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Scientology ist ein interessantes Phänomen, weil wir am gesellschaftlichen Umgang mit dieser Neuen Religiösen Bewegung die soziologischen Faktoren von Ausgrenzung und Stigmatisierung beobachten können. Dabei geht es in dieser Diskussion weder um Tatsachen oder Wahrheit, sondern um den Umgang mit Werten und Moral. Eine religiöse Bewegung, welche die Vergangenheit der Psychiatrie und generell deren Methoden anprangert, so etwas hatte es in Deutschland noch nicht gegeben. Gleichzeitig konnte ich beobachten, dass einige Interessengruppen sehr intensiv daran arbeiten, sogenannte Aussteiger als repräsentativ für die ganze Gemeinschaft zu darzustellen, mit dem Ziel, ein negatives Bild über Scientology in der Gesellschaft zu verbreiten. Ich hatte manchmal den Eindruck, als wenn hier der Versuch unternommen wurde, von den Entgleisungen in den Amtskirchen abzulenken.
Wie wurde auf Ihr Buch reagiert?
PS: Ich hatte mehr erwartet: mehr moralische Entrüstung, mehr Auseinandersetzungen, mehr Diskussionen. Obwohl mehrere Tausend Bücher im Umlauf sind, kommt es mir so vor, als wenn das Buch totgeschwiegen wird. Selbst frühere Kollegen aus der Beraterszene reagierten nicht auf meine Publikation, ebenso der deutsche Verfassungsschutz. Dafür konnte ich einige Rezensionen auf Amazon lesen. Ich wurde aber weder als Nestbeschmutzer noch als unwissenschaftlich angegriffen.
Mittlerweile liegt eine englische Übersetzung des Buches vor, welche demnächst veröffentlicht wird.
Im Rückblick: Wie sehen Sie allgemein die „Sektenproblematik“?
PS: Die Diskussion ist völlig überzogen und nichts wird hinterfragt. Der Bereich der sogenannten Sekten betrifft nur bestimmte Bereiche unserer Gesellschaft, dabei geht es häufig um Wertorientierungen oder, einfach gesagt, um die Frage was sein darf und was nicht. Es gib Interessengruppen, die ein Problem mit neuer Religiosität und Spiritualität haben, Menschen, die der Ansicht sind, dass diese schädlich für den Menschen ist. Warum Menschen sich neuen spirituellen Angeboten zuwenden, was sie dort suchen oder finden oder die Tatsache, dass sich Menschen in solchen Gruppen einfach gut aufgehoben fühlen, dass ist diesen Interessengruppen völlig egal.
Wir sollten das Thema – wie in der Vergangenheit bisher geschehen - nicht allein den Kirchen überlassen, denn der Staat hätte eigentlich die Aufgabe in Sachen Religion für Transparenz zu sorgen bzw. das Gleichgewicht der Informationen zu gewährleisten. So könnte sich der Bürger eine sachliche Meinung bilden.
FECRIS ist eine internationale Vereinigung, die diverse Antisekten-Bewegungen zusammenführt. Hatten Sie damit auch Erfahrungen gesammelt?
PS: In Österreich gibt es auch eine Organisation, die FECRIS unterstützt und fördert. Ihre Mitglieder sind Einpeitscher, die gegen jedwede Form von neuer Religiosität und Spiritualität auftritt. Sie verbreiten eigenartige Theorien über „Sekten“ und ihre „Methoden“. Ich hatte ständig das Gefühl, dass sie versuchen, familiäre Konflikte „Sekten“ anzulasten.
Was machen Sie heute?
PS: Ich bin als selbständiger Unternehmer im Gesundheitsbereich tätig. Hier muss ich viel auf Augenhöhe kommunizieren, was meine Kunden und auch ich sehr schätzen. Ich interessiere mich noch immer für die Thematik und gelegentlich erhalte ich noch Einladungen, meine Meinung zum Thema kundzutun.
Mehr über Peter Schulte:
Peter Schulte ist ein angesehener Sozialwissenschaftler, der für seine aufschlussreichen Beiträge zur Soziologie und zu Ideologien bekannt ist. Zwölf Jahre lang war er als "Regierungsbeauftragter" für Ideologien und Sekten tätig und gewann so einzigartige Einblicke in die Komplexität religiöser und ideologischer Fragen. Schulte stellte mit seinen Forschungen die vorherrschenden Auffassungen in Frage und setzte sich für ein differenzierteres Verständnis neuer religiöser Bewegungen ein. Heute ist er als selbständiger Unternehmer im Gesundheitssektor tätig und gibt sein Wissen und seine Erfahrung weiter. Schultes Leidenschaft, menschliches Verhalten zu entschlüsseln und fundierte Diskussionen zu fördern, hat die Welt der Sozialwissenschaften nachhaltig beeinflusst.